Überstunden

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This article was last updated on 2019-11-09, the content may be out of date.

Meine Erfahrung aus zwölf Jahren Consulting in denen ich bestimmt Hundert Firmen von innen gesehen habe, ist, dass 90% der Überstunden gar keine Überstunden sind, weil sie gar nicht angeordnet wurden und meistens auch nicht abgerechnet werden, außer es gibt eine strikte Zeiterfassung mit digitalen Stempelkarten.

Die meisten Arbeitnehmer machen Überstunden aus eigenem Antrieb, entweder weil sie sonst den vermeintlichen Soll nicht erfüllen, aus sozialem Druck heraus oder - und das ist der meiste Fall - weil Arbeit eben in einigen Bereichen zyklisch anfällt (Quartalsende, Sprints, Troubleshooting) und akut drängt.

Der korrekte Umgang wäre also, sich diese Überstunden - wenn sie denn drängen - von vornherein genehmigen und anrechnen zu lassen und dann im Nachgang wieder abzufeiern, wenn es mal ruhiger ist oder sie ausgezahlt zu bekommen. Häufig geht das - sofern das Arbeitsverhältnis gut ist - im Sinne eines gegenseitigen Geben und Nehmens auch subtiler und unter der Hand - man macht eine halbe Stunde früher Feierabend, fängt etwas später an oder bekommt weitere Freiheiten, z. B. um in der erweiterten Mittagspause Amtsgänge zu erledigen. Häufig gibt es auch Homeoffifceregelungen und Firmen in denen der Freitag quasi nur noch ein halber Arbeitstag ist und die Überzeiten unter der woche kompensiert. Falls es keine Möglichkeit gibt, die Überstunden offiziell oder inoffiziell abzufeiern, ist der Betrieb chronisch unterbesetzt und man sucht sich besser eine andere Arbeit.

Ansonsten ist das Thema im Arbeitsvertrag geregelt und das gilt auch in beide Richtungen.

Allerdings muss man sich in gewissen Branchen eben auch nicht wundern, dass Überstunden vorausgesetzt werden. Mir hat man im Bewerbungsgespräch deutlich gesagt, dass die Erwartung ist, dass ich in der Regel 40 billable hours leisten sollte und dass Travel und Admin on top kommen. Im Arbeitsvertrag sind 10 Überstunden pro Woche angegolten und entsprechend werde ich bezahlt bzw. habe ich das Gehalt verhandelt. In der Praxis ist es gar nicht so schlimm, da wir zunehmend remote arbeiten, es immer mal downtime gibt und man sich auch Tage für Reisen freihalten kann, aber dennoch wäre es wohl ein KO-Kriterium für so einen Job auf dem Thema Überstunden herumzureiten, auf seine Rechte zu pochen und nicht flexibel zu sein. Schlussendlich zählt bei uns, dass man das Projekt zufriedenstellend abliefert, auch wenn man dafür manchmal noch vier-fünf Stunden abends im Hotel zu gange ist, während man ein andern mal nur rumgammelt. Wichtig ist, dass man für sich selbst einen akzeptablen Ausgleich findet und nicht konstant im Firefightingmodus agiert.

In den meisten Akademikerjobs heutzutage geht es mehr um Leistung als um Zeit. Es gibt sicher noch eine gewisse Präsenzpflicht in Deutschland, aber das ist zunehmend im Wandel und ich glaube die meisten Arbeitnehmer machen sich selbst deutlich mehr Stress als sie müssten. Vor allem unterliegen sie dem Irrglauben, man würde ihnen freiwillig geleistete Überzeit karrieretechnisch positiv anrechnen. In der Regel ist das Gegenteil der Fall. Die Arbeitstiere bleiben in ihren Rollen, da sie in diesen der Firma am meisten nützen und offenbar zugleich schlecht darin sind, ihre eigene Zeit zu managen. Je effizienter und besser man in seiner Rolle ist, umso eher kann man sie auch in kürzerer Zeit erledigen. Statt nun aber bis zum Burnout 200% abzuliefern kann man auch 120% in 60% der Zeit erledigen und mit dem Rest stressigere Phasen kompensieren und trotzdem immerzu einen guten Eindruck machen

Das alles ist aber natürlich aus einer privilegierten Position mit viel Eigenverantwortung in einer privilegierten Branche gesprochen, aber ich bilde mir ein, durch den Job einen Einblick in viele unterschiedliche Firmenkulturen zu haben.


Ich sehe mich gerade wegen Jobs in Deutschland um (https://www.reddit.com/r/Finanzen/comments/du9plx/geh%C3%A4lter_itbranche_dach_evt_benl/) und bin daher auf diese Diskussion hier gestoßen. Welche Branchen/Firmen kannst du den empfehlen aufgrund deiner bisherigen Erfahrung? (Gerne auch per PM)

Mein persönlicher Zugang zum Thema Überstunden: solange es sich im Rahmen hält (bis zu 60h max/Woche und dass nur fallweise) und nicht ganzjährig wegen schlechter Planung notwendig, der Job selbst interessant und das Umfeld kollegial kann ich damit gut klar kommen.

Generell sind Überstunden keine Ausschlusskriterium, ich finde nur sie sollten entsprechend abgegolten werden - also entweder genaue Aufzeichnung und Abrechnung oder eben pauschal durch ein höheres Gehalt.

Das Dilemma dabei ist, dass Überstunden allein nicht die einzige Perspektive auf das Thema Firmenkultur sind. Ich werde keine konkreten Firmen nennen, auch nicht per PM, aber vielleicht hilft es trotzdem:

Tendenziell hast du natürlich in jungen, dynamischen Unternehmen mehr Überstunden und in alten, etablierten Unternehmen starrere Regelungen. Auf der einen Seite waren das Extrem für mich in den letzten paar Monaten große, durchaus gefestigte, Medienunternehmen mit Sitz in London und Amsterdam. Extrem diverse Teams, 90% der Mitarbeiter aus unterschiedlichen Ländern quer aus Europe, clevere, motivierte Leute, die nicht nur Dienst nach Vorschrift machen und sicher mehr als 40 Stunden arbeiten. Auf der anderen Seite hast du ehemalige Staatskonzerne, bei denen man im Netzwerk Core keine benutzerabhängige Authentifizierung mit Audittrail implementieren darf, weil der Betriebsrat das blockiert, der aber im Gegenzug auch penibel die Überstunden überwacht.

Das Problem ist also, dass das ganze Thema nicht nur auf Überstunden, sondern auch auf alles andere zutrifft. Wenn du nicht den Mief, die aufmürbenden Prozesse und kaum Handlungsfreiheiten haben möchtest, sondern mehr Eigenverantwortung, Gestaltungsspielraum und selbst Veränderungen antreiben möchtest, dann kollidiert das mit dem Wunsch von strikerer Überzeitregelung. Dynamische Regelungen sind eben keine Einbahnstraße.

Schlussendlich ist das meines Erachtens relativ individuell. Wenn du gut in dem bist was du tust, dann wirst du in beiden Bereichen auch gut durchkommen, vor allem wenn es eine Rolle ist, in der das Ergebnis zählt und weniger der Aufwand.

Ich würde beispielsweise grundsätzlich keine Betriebsjobs machen wollen (Ticketarbeit, Rufbereitschaft), weil das meinen Prinzipien von Selbstentfaltung und Gestaltung widerstrebt und mich aufreibt, sondern immer mehr Richtung Engineering gehen. So lang du aber besser als die meisten anderen bist, kannst du einen Weg für dich finden, das Arbeitspensum zu kontrollieren. Daher fühle ich persönlich mich eher in Unternehmen wohl in denen zwar das generelle Pensum hoch, die Arbeit aber leistungsorientiert mit höherer persönlicher Verantwortung ist.

Schlussendlich ist das der Clash der Firmen- und Führungskulturen: Kooperativ vs. Autoritär, demokratisch vs. hierarchisch (fachlich/innerhalb der Teams, schlussendlich hat natürlich jede Firma eine Hierarchie). In der Regel merkst du sehr schnell, wie der jeweilige Konzern tickt.

Ganz allgemein gesprochen sind - wie hier im Thread schon mehrfach erwähnt - Automobilindustrie inkl. Zulieferern, Luftfahrt, Versicherungen, ehemalige Staatskonzerne und Moloche wie die Thyssen-Krupp Unternehmen, jeweils mit starken Gewerkschaften und Betriebsräten, auf der rigideren Seite des Spektrums und amerikanische/englische Konzerne, Tech (gerade Web Services) auf der freiheitlicheren Seite. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel und irgendwo ist das an der Stelle auch eine Binsenweisheit. Banken sind ein interessanter Hybrid, weil es um genug Geld geht, dass man sich zum Teil qualifiziertes Personal leistet und nicht sämtliche Kompetenz wegoptimiert oder outsourct, aber dann doch sehr rigide Prozesse herrschen.

Ich finde der Sweetspot sind lokale Ableger von US Konzernen mit 3-5k Mitarbeitern / ~10B Market Cap in einem Prämiumsegment. Man ist weit genug vom Hire/Fire und aufgrund unserer Gesetzgebung von strikter Befolgung der Policies weg, profitiert dennoch finanziell und hat relativ viele Freiräume. In den Rollen, die du aufgelistet hast, wird das aber relativ schwierig, wenn man nicht an der Zentrale angesiedelt ist. Auf jeden Fall in einen Bereich gehen, in dem der Geschäftsführung bewusst ist, dass Tech eine Kernkompetenz und nicht nur eine Kostenstelle ist. Außerdem muss deutlich werden, dass man die Mitarbeiter und ihre Kompetenz als zentrales Asset der Firma wertschätzt und sie nicht als notwendiges Übel betrachtet. Dann sind sämtliche Vertragsbestandteile sowieso ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das eher auf Kooperation fußt, also gemeinsam an einem Strang ziehen, denn auf einer Kampfsituation, wie es in den meisten Betriebsräten der Fall ist.