Wissenschaftskommunikation

Note
This article was last updated on 2023-03-09, the content may be out of date.

Mich nervt dieser Trend, sowohl von Journalisten, als auch von Wissenschaftlern, Realität neu definieren zu wollen, indem man Begriffe umdefiniert.

Das ist doch nur Semantik und ändert absolut nichts an den Tatsachen.

Bei Journalisten sehr beliebt, weil es einen inhaltlichen Konflikt suggeriert, der eigentlich gar nicht existiert. Dann diskutieren die Leute wie wild und empören sich, aber eigentlich ist der Stein des Anstoßes nur die mangelnde Vokabeldefinition zu Beginn. Man kann aber nur Konsens finden, wenn man erst einmal die Begriffe abstimmt - und dies nicht indem man lang bestehende Vokabeln einfach umdefiniert. Nicht umsonst beginnen Standardisierungsgremien wie die IETF, IEEE oder 3GPP jedes Dokument mit eindeutigen Begriffsdefinitionen.

Auf wissenschaftlicher Ebene versucht man genau diese Definition neu zu setzen, um sich entsprechend zu differenzieren. Das mag in einigen Feldern und Untersuchungen inhaltlich durchaus Sinn ergeben, aber gerade allgemeine Begriffe wie Armut beschreiben doch im normalen Sprachgebrauch einen absoluten Zustand und nicht eine willkürliche, relative Situation im Verhältnis zu einer Bezugsgruppe.

“Ich definiere selbst den Begriff neu und erzähle dann allen, dass sie falsch liegen” ist nicht nur kein guter Stil, sondern verlogen und erzeugt vollkommen unnötige Reibung. Es ist genau die Aufgabe von Wissenschaftskommunikation und Journalismus das im Kontext einzuordnen und eben nicht zuzuspitzen.


Na ja. Ich verstehe schon deine Kritik, aber man kann genauso gut von der anderen Seite kommen: Es wird gesellschaftlich ausgehandelt (vulgo: “sozial konstruiert”), was reich ist. Das ist nicht einfach eine fixe Grenze von einem bestimmten Jahres- oder Monatseinkommen, sondern hat mit kulturellen Praktiken, relativem Konsumverhalten, Vergleichbarkeit und Sichtbarkeit zu anderen usw. usf. zu tun. Das sollte auf r/Finanzen eigentlich klar sein.

Meine Kritik ist nicht, dass im konkreten Kontext Begriffe eindeutig definiert werden, sondern dass - gerade in Überschriften - konsequent verkürzt wird und keine Einordnung stattfindet und man stattdessen dem Leser vorwirft seine Definition sei falsch oder veraltet, statt erst einmal festzustellen, dass es kontextuelle, unterschiedliche Definitionen gibt, die wunderbar nebeneinander existieren können.

Mich stört also der Absolutheitsanspruch auf die Deutungshoheit. Genau wie die Arbeit quasi die Gruppe der Superreichen einfach kategorisch ausklammert. Mag ja sein, dass dies nicht Kern ihrer Forschung war, aber das ändert nichts daran, dass der Lebensstandard eines Milliardärs dann doch wenig mit 50k€ Einkommen und 80k€ Vermögen zu tun hat.

Bei Armut passiert das beispielsweise in schöner Regelmäßigkeit, wenn der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Bericht veröffentlicht und das “relativ” vor Armut konsequent weglässt und noch einen drauflegt und “Kinderarmut” betont. Das ist dann ganz klar ideologisch und nicht objektiv. Ich vermisse da zusehends eine kritische Auseinandersetzung mit der Sprache und eine kontextuelle Einordnung der Begriffe auf Seiten der Journalisten.


Das lese ich so aus dem Text nicht heraus. Sie sagt halt: “hey, wir haben mit diesem Verständnis von Reichtum gearbeitet” und macht dann das Angebot.

Die Überschrift ist nun mal literally “Die Gruppe der Reichen ist größer, als viele denken” und nicht “Wir sind der Meinung, eine größere Gruppe von Menschen sollte als reich betrachtet werden [und die Superreichen ignorieren wir, weil heterogen und schwierig zu analysieren]”.

Ich kritisiere den Journalismus und die Wissenschaftskommunikation, weniger die fachliche Arbeit. Vermutlich meinten sie sogar “Die Gruppe der Reichen [in unserer Untersuchung/nach unserer Definition]”, aber genau diese wichtige Distinktion fällt dann in der Headline für die Leser weg.

Ansonsten sind wir glaub ich gar nicht weit voneinander entfernt. :-)


Aber du schreibst, dass “Armut” im normalen Sprachgebrauch einen “absoluten Zustand” beschreibt. Wenn der Zustand so absolut ist, dann dürfte es doch nicht so schwer sein, “Armut” genau zu definieren. Ab wann ist man arm? 1000€ pro Monat, 1500€ pro Monat? Aber so einfach ist es doch gerade nicht, deswegen sprießen diese ganzen sinnlosen Artikel aus dem Boden… Kann man halt immer wieder neu aufwärmen.

Das war in dem konkreten Fall mehr ein Seitenhieb auf die Begriffe “relative Armut”, “Armut” und “Kinderarmut”, die regelmäßig durcheinander geworfen werden, ohne eine klare Abgrenzung vorzunehmen.

Wir könnten alle morgen das doppelte verdienen und die Menge der relativen Armut (worauf sich auch Kinderarmut bezieht) wäre exakt gleich hoch.

Es gibt auch eine internationale Definition der Armutsschwelle auf Dollarbasis von der UN bzw. Weltbank, wie sie auf Our World in Data ($2.15 am Tag) und Gapminder betrachtet wird. Davon ist kein Deutscher betroffen. Aber auch da gibt es regelmäßige Kritik an den konkreten Summen und auch Anpassungen.